Aktuelles aus Schule und Kindergarten

Montag, 25.07.16

Artikel in der Stuttgarter Zeitung - Pionierkinder

Die Pionierkinder werden flügge

Im Garten der Freien Aktiven Schule (FAS) an der Hohen Eiche in Degerloch brennt am hellen Vormittag ein Lagerfeuer, auf der Wiese steht ein Indianerzelt, ein paar jüngere Kinder sitzen im Schatten und schreiben in ihre Schulhefte, andere Kinder ziehen einander in einem Wägele. Ein klassischer Schulalltag sieht anders aus. Es gibt keine Noten, aber Lernangebote. Jedes Kind bestimmt selbst, wann es was lernen möchte, außer man möchte gemeinsam mit anderen Kindern etwas machen. Das erfordert Absprachen. 

Kann so ein auf Freiheit und Selbstbestimmung ausgerichtetes Schulkonzept die Kinder ausreichend auf Studium, Ausbil- dung und Beruf vorbereiten?

 

Sechs Pionierkinder aus dem Gründungsjahrgang 2002 sind an ihre FAS zurückgekommen, um über ihre Erfahrungen zu berichten. 

Laura Hohenberger (19): Nach neun Jahren auf der FAS absolvierte sie als Schulfremde die Hauptschulprüfung, danach erhielt sie ein Stipendium als Austauschschülerin für ein Jahr in Sacramento in Kalifornien. „Da war klar, dass ich da- nach auf ein Gymnasium gehen würde.“ Sie landete auf dem Leibniz-Gymnasium in Feuerbach, ohne Aufnahmeprüfung, aber auf Probe kam sie in die zehnte Klasse des G 8. „Ich musste elf Fächer aufholen, die ich nie hatte – alle Naturwissenscahften, Mathe - aber das ging. Ich bin ziemlich gut mitgekommen.“ Sie wurde Schulsprecherin und hat jetzt ihr Abitur mit der Note 1,1 abgelegt. Dabei habe sie in der FAS immer das Gefühl gehabt: „Du bist ganz arg dumm – das hat mich gelähmt.“ Heute kann sie den Grund benennen: „Ich hätte mehr Halt gebraucht, eine Rückmeldung: ja, das kannst du.“  Das Offene an der FAS habe ihr „nicht gutgetan“, meint sie heute. Geholfen habe ihr allerdings die Allgemeinbildung, die sie dort gelernt habe, „mir Sachen selber beizubringen“. Was hat sie im Gymnasium vermisst? Laura denkt lange nach. „Tiefgründige Gespräche“, sagt sie schließlich. 

Annika Schneider (20): Auch sie hat die FAS vor drei Jahren mit dem Hauptschulabschluss verlassen, inzwischen eine Ausbildung zur Kinderpflegerin absolviert – damit wurde auch der mittlere Bildungsabschluss anerkannt. „Der Beruf hatte höhere Priorität als ein höherer Bildungsabschluss“, sagt sie. „Ich bin voll glücklich – ich liebe meinen Beruf, meine Arbeit und hab’ Lust, noch viel mehr zu lernen.“ Gesagt, getan. Jetzt hat Annika eine Ausbildung zur Erzieherin angefangen. 

Charlotte Weil (20): Nach vier Grundschuljahren in der FAS wechselte sie in die Realschule, kehrte nach der achten Klasse aber wieder für anderthalb Jahre an die FAS zurück, um zum Schluss doch wieder auf die Realschule zu wechseln. Inzwischen hat sie auf dem Berufskolleg für Modedesign einen Abschluss als Modedesignerin und Damenschneiderin samt Fachhochschulreife. Rückblickend sagt Charlotte: „Ich fand’s an der Realschule schlimm – musste Sachen lernen, auf die ich keinen Bock hatte.“ Das entsprach so gar nicht dem, was sie an der FAS erfahren hatte. „Dort hab’ ich eingetrichtert bekommen, dass man Sachen nicht auswendig lernt, sondern sich inhaltlich mit ihnen beschäftigt“, berichtet sie. Mit dem Ethiklehrer auf der Berufsschule habe man nicht diskutieren können, bedauert Charlotte. „Aber gerade gesellschaftliche Werte und Regeln muss man doch hinterfragen können.“ 

Nick Kalmbach (19): Schon mit fünf Jahren kam er an die FAS, wo er elf Jahre lang war. 2012 absolvierte er den Hauptschulabschluss, 2013 den Werkrealschulabschluss, jeweils als Schulfremder. Gemeinsam mit zwei FAS-Mitschülern besuchte er dann das Sozialwissenschaftliche Gymnasium des Kolping-Bildungswerks. „Die Eingewöhnung ging gut.“ Auch an spannende Deutschstunden dort erinnert sich Nick. Nur hätte er sich oft mehr Zeit für tiefere Gespräche gewünscht. Eine enge Taktung der Fächer gab und gibt es an der FAS nicht. Dennoch denkt Nick gern an seine Gymnasialzeit zurück: „Ich hatte Glück, ich konnte immer diskutieren mit den Lehrern – ich musste das auch, als Klassensprecher und dann als Schulsprecher. Dabei hat mir die Streitschlichterausbildung an der FAS sehr geholfen.“ Dort habe er auch gelernt, Hierarchien zu hinterfragen und Rechte einzufordern – „man hat als Schüler ja auch das Recht zu lernen und auf guten Unterricht“. Was ihm besonders geholfen habe: „Dass man auf der FAS viele Dinge probieren konnte, ohne eine schlechte Note zu riskieren – durch diese Erfahrungen lernt man effizienter“, sagt Nick. Seine Abinote: 1,4. 

Dominik Mohr (20): Auch er wechselte nach elf Jahren FAS auf ein berufliches Gymnasium. Doch im TG in Karlsruhe mit einem hohen Jungenanteil merkte er nach einem Vierteljahr: „Das ist nichts.“ Der Grund: „Die Art, wie die Mitschüler waren. Es gab Klischeetypen, wie man zu sein hat: Man geht ins Fitness-Studio und schaut Actionfilme. Tanzen geht gar nicht“, sagt Dominik, der früher sieben Jahre ins Ballett ging. Als er seinen Mitschülern im TG erzählt habe, dass er aus der FAS komme, hätten die gesagt: „Wie, keine Noten?“ – „Das ist nichts, da bist du abgestempelt.“ Da wechselte Dominik nach Stuttgart aufs Sozialwissenschaftliche Gymnasium und traf seine Mitschüler von früher. „Ich wurde da viel mehr angenommen.“ Durch die Noten erhalte man zwar eine Rückmeldung, wo man stehe, aber es entstehe auch ein Abhängigkeitsverhältnis zum Lehrer – „das ist deutlich schlechter als an der FAS“. Dennoch findet Dominik, der sein Abi mit 1,3 absolvierte: „Ich hab’ insgesamt ’ne super Schulzeit gehabt.“ Doch nun tue er das, was er wolle: „Ich mach’ eine Ausbildung zum Tänzer. Ich nutz’ mein Abitur nicht.“ 

Anton Wolff (19): Wie Nick und Dominik besuchte er nach der zehnten Klasse das Sozialwissenschaftliche Gymnasium. „Ich kam am wenigsten damit zurecht, dass ich was lernen muss, wofür ich mich nicht inte-ressiere. Ich lerne aus der Motivation he- raus. So hab’ ich Fächer vernachlässigt, die mich nicht interessiert haben.“ Sein Abi be- stand Anton trotzdem. Mit 3,2. Das reichte ihm. „Ich will meine Ressourcen und Ener- gien für das aufbewahren, was mir wichtig ist, nicht für das, was anderen wichtig ist.“ 

ACHT FAMILIEN HABEN SICH ZUSAMMENGETAN

Gründung Im September 2002 wurde die Freie Aktive Schule (FAS) mit zehn Kindern und einer angestellten Montessori-Lehrerin in Hedelfingen gegründet. Acht Stuttgarter Familien taten sich zusammen, um eine reformpädagogische Schule nach dem Vorbild von Maria Montessori und Rebeca Wild zu gründen.

AktuellDerzeit besuchen 105 Kinder die Schule bei der Hohen Eiche in Degerloch. Das Bildungsangebot endet nach der Jahrgangsstufe zehn. Hauptschul- und Realschul- abschluss sind über Schul- fremdenprüfungen möglich. 

Ausblick Gabriele Groß, Gründungsmutter und Geschäftsführerin, nimmt die Rückblicke der Pionierkinder zum Anlass, über Orientierung und Feedback-Kultur nachzudenken: „Wir müssen genauer hinschauen, eine intensive Einzelbegleitung jedes Kindes ist wichtig.“ Katrin Bohner, Gründungsmutter und im Schulleitungsteam, sieht den Kurs der FAS bestätigt.